Unsere Frauen sind frei und gleichberechtigt! Wirklich?
von Irfan Ortac

Sapere aude! – Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen, forderte einst Immanuel Kant.

Dieses berühmte Wort des Aufklärungsphilosophen gilt insbesondere für uns, wenn wir anfangen, uns mit den Missständen in unserer Gesellschaft auseinander zu setzen. Wir brauchen Mut, um die Angriffe der ewig Gestrigen abzuwehren. Wir brauchen unseren gesunden Verstand, um zu erkennen, dass die Missstände in der Gesellschaft beseitigt werden müssen.

Die Yezidische Allianz mit dem Sitz in Oldenburg stellte mit der Erklärung vom 21.02.2005 fest, dass die yezidische Religion keine Elemente enthält, die eine Benachteilung oder Diskriminierung der Frau rechtfertigen (www.yeziden.de). Dem kann uneingeschränkt zugestimmt werden.

Nicht nur die yezidische Allianz macht darauf aufmerksam, dass die Frau in der yezidischen Theologie mit dem Mann gleichberechtigt ist, sondern auch der religiöse Führer der Yeziden, Mir Tahsin Beg hat wiederholt auf diese Tatsache hingewiesen und eine Gleichberechtigung im täglichen Leben gefordert.

Weiter heißt es im Text der Allianz: „Auch im täglichen Leben ist die Frau nicht zurückgesetzt.“ Doch dem ist nicht so im yezidischen Alltag. Denn sonst wäre die yezidische Gesellschaft die einzige dieser Welt, wo Frauen und Männer wirklich gleichberechtigt miteinander leben.

Frauenrechte sind Menschenrechte — Rechte, die den Frauen aus der einfachen Tatsache heraus zukommen, dass sie menschliche Wesen sind. Das sieht auf den ersten Blick ganz logisch aus.

Überall, auch in den als „entwickelt“ geltenden Gesellschaften der westlichen Welt, erfahren Frauen Diskriminierungen.

Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen hat in nahezu allen Gesellschaften eine sehr lange Tradition. Die yezidische Gesellschaft macht dabei keine Ausnahme. Die Frauenrechtsverletzungen werden durch eine Jahrhunderte alte tief verwurzelte Tradition legitimiert.

Die Ächtung solcher Traditionen ruft oft den Widerstand der „Traditionalisten“ und sexistisch veranlagten Männer hervor. Es ist insbesondere für Frauen keine leichte Aufgabe, sich den traditionellen und nach wie vor fest verankerten Familien- und Gesellschaftsstrukturen zu widersetzen. Dagegen kann man nur mit intensiven und langfristigen Maßnahmen vorgehen, die alle Lebensbereiche der Menschen betreffen.

Viele dieser „Traditionalisten“ verweisen immer wieder darauf, dass das Menschenrechtsverständnis westlich geprägt und nicht auf unsere Kultur zu übertragen sei. So sei die „Gleichheit“ von Frau und Mann nicht mit unserer Kultur vereinbar. Diese zunächst eingängige Argumentation wird von liberalen Yeziden und Europäern unter dem Blickwinkel der „Toleranz“ oft geduldet und sogar übernommen. Dennoch muss hier beachtet werden, dass solche Argumentationen meist zur Rechtfertigung von schweren Menschenrechtsverletzungen dienen, die kein kulturelles Brauchtum, sondern einen Ausfluss repressiver Herrschaftssysteme darstellen. Oft werden jene abwehrend hochgehaltenen kulturellen Identitäten und Traditionen erst künstlich konstruiert, um von bestehenden sozioökonomischen Ungleichheiten und asymmetrischen Machtverhältnissen abzulenken. Auch wenn dann Frauen und Männer religiös gesehen gleich sind, so sind sie es in der gesellschaftlichen Praxis jedoch keineswegs.

Um zu verstehen, welche Stellung die yezidische Frau in der Gesellschaft inne hat, muss man sich zwei Aspekte ins Gedächtnis rufen: zum einen die Tatsache, dass die Frau zu ihrer agnatischen (männliche Erbfolge) Gruppe gehört. Dies impliziert, dass der männliche Verwandte der väterlichen Linie ökonomisch, rechtlich und moralisch verantwortlich ist. Zum anderen sollte man bedenken, dass der Familienstolz im Zusammenleben das Hauptkriterium bildet.

Obwohl durch die Emigration die Sitten sich gewandelt haben, bleiben weiterhin die tradierten Verhaltensweisen in Kraft.

Der Wunsch nach einer großen Anzahl von Söhnen hat nach wie vor Priorität. Zumal die Söhne als Prestigefaktor und als Versicherung für die Zukunft gelten. Aufgrund der enormen Bedeutung, die der weiblichen Fruchtbarkeit beigemessen wird, leben Frauen, die als unfruchtbar gelten oder nur Mädchen gebären, in einer fundamentalen Unsicherheit: Immer wieder liefert Ihre Unfruchtbarkeit die Begründung für Ehescheidungen, auch wenn ihre Zahl in der letzten Zeit abgenommen hat. Selbstverständlich liegt es angeblich immer an den Frauen, wenn eine Ehe unfruchtbar ist.

Wenn ein männlicher Nachkomme geboren wird, findet selbst bei ärmsten Leuten ein großes Fest statt. Der Säugling wird länger gestillt, von der Mutter oder den älteren Schwestern getragen, gehätschelt und verwöhnt.

Heiraten ist eine ökonomische Notwendigkeit, weil man die Frauen für einen Teil der Pflichten braucht. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die junge Ehefrau der Schwiegermutter wie eine Bedienstete bei den häuslichen Pflichten zur Hand gehen muss. Sogar in den Sprichwörtern hat man das festgehalten, wie z. B. „Buka sale, qeşmera male.“ (Junge Braut ist die Dienerin des Hauses).

Manche Leser (mit großer Wahrscheinlichkeit werden es die Männer sein) könnten auf die Arbeitsteilung innerhalb des Haushaltes verweisen. Sie könnten anführen, dass die Ehefrau doch die Herrin des Hauses sei. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Frau bei dieser Arbeitsaufteilung nicht gefragt wird. Sie wird ihr vielmehr von den Männern des Hauses auferlegt. Sie hat nur das Recht, diese Rolle zu erfüllen.

Ein junges Mädchen, das seinem Verlobten übergeben wird, erhält von der Mutter die Instruktion, sich zu fügen. In der yezidischen Theologie wird sowohl der männliche als auch der weibliche Ehebruch verachtet. Tatsächlich jedoch bestraft die Gesellschaft den männlichen Ehebruch relativ lax, den weiblichen hingegen extrem streng.

Die Gesellschaft hat bei den Frauen eine Mentalität erzeugt, wie man sie bei allen Unterdrückten findet. Heuchelei, Lüge, Doppelzüngigkeit sind die einzigen Waffen, über die sie letztendlich verfügen. Und viele von ihnen machen davon Gebrauch. Im Rahmen der vom System vorgegebenen Beziehungen ist kein anderes Verhalten denkbar, denn die direkte Konfrontation ist selbstmörderisch.

Einer der Trümpfe der Frauen besteht im Umgang mit der Sexualität des Mannes. Sie pflegt ihr Aussehen, enthaart sich fein säuberlich am ganzen Körper, macht sich diskret durch subtile und indirekte Aufforderungen begehrenswert, um ihren Mann zu halten. Die größte „Strafe“ für einen Mann besteht darin, wenn die Frau sich ihm dann verweigert.

Im Laufe der Jahre, und das kommt häufiger vor, entwickeln die Mütter jedoch einen Ehrgeiz in Bezug auf ihre Töchter. Ihre eigene Erfahrung bringt sie dazu, ihnen mehr und mehr Vertrauen zu schenken. Sie drängen sie zum Studium, gegebenenfalls zur Erlernung eines Berufs, um eines Tages unabhängig zu sein. Der Blick, mit dem die Mütter ihr eigenes Leben betrachten, lässt sie für ihre Töchter anderes wünschen – sie machen sich bis zu einem gewissen Punkt zu deren Komplizinnen. Es kommt nicht selten vor, dass eine Mutter während einer Unterhaltung ihren Töchtern rät, nicht zu viele Kinder zu bekommen. Sie vermitteln ferner den Jüngeren Begriffe von Verhütung, die sie für sich selbst abgelehnt haben. Mitunter berücksichtigen sie auch den Geschmack ihrer Töchter, wenn sie es für an der Zeit halten, sie zu verheiraten.

Die Tatsache darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Verbesserung der Lage der Frau, im rechtlichen wie im Alltagsleben, auch im Westen noch jüngeren Datums ist. Muss man daran erinnern, dass französische Frauen erst seit 1945 das Wahlrecht besitzen, in einem Schweizer Kanton auch heute noch nicht, und dass die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ noch lange nicht völlig durchgesetzt ist? Gleiche Rechte stehen auf dem Papier. In die alltäglichen Lebensgewohnheiten haben sie noch längst nicht Einzug gehalten.

Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich suche keine Feindbilder. Ich will weder zur Bestätigung von Vorurteilen an meiner Gesellschaft führen, noch an irgendwelchen Klischeebildern rütteln. Als einzelnes Individuum dieser Gesellschaft und angehender Sozialwissenschaftler betrachte ich das als meine Pflicht, auf die Missstände hinzuweisen, wohl wissend, dass einige Unbelehrbare mich mit Kritik zuschütten möchten.

Nicht die Leugnung von Unzulänglichkeiten wird uns voranbringen, sondern eine mutige und konsequente Auseinandersetzung mit den vermutlich nicht mehr zeitgemäßen Traditionen.

Ich habe noch viele Punkte unberücksichtigt gelassen, wie z.B. Vergewaltigung in der Ehe, häusliche Gewalt, Frauenhandel, auch Mitgift genannt, das Sorgerecht für die Kinder im Falle einer Scheidung und viele andere relevante Themen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Jedesmal, wenn eine yezidische Frau aufsteht, um ihre Rechte zu verteidigen, steht ein Mann hinter ihr, der fragt: Was willst du eigentlich, willst du etwa wie die Europäerinnen werden?

Dass Männer und Frauen gleichberechtigt miteinander leben können, haben uns die von dem französischen Aufklärer Rousseau als „edlen Wilden“ bezeichneten Irokesen gezeigt.

 

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Kommentar - Außensicht 

von Karl G. Mund

Ich bin nicht sicher, wie gut Jean Jacques Rousseau die Irokesen kannte. Ich könnte mir nämlich gut vorstellen, dass es auch irokesische Männer gab und gibt, die ihre Frauen nicht so aufklärerisch edel behandelten.

Es gibt da in der yezidischen Mythologie eine schöne Geschichte. Da wird einmal mit Hilfe des Engels Jibr’il dargestellt, dass für die Entstehung des Nachwuchses nur die Gene (der Same) des Mannes – hier der von Adam – maßgeblich und nötig sind. Das daraus entstehende Kind Şedîdi Bincer ist Adams Liebling und Hawas Missvergnügen und sie trachtet dem Kinde nach dem Leben. Der Engel Jibr’il vereitelt Hawas Plan, danach folgt jedoch keine Bestrafung, sondern eine Art staatspolitischer Gipfelkonferenz, an deren Ende die Frau, die Gott als zusätzliche Gebärerin für Adam vorgesehen hatte, mit Şedîdi Bincer (zwangs?)verheiratet wird. Aus Sicht der mythischen Ur-Yeziden gibt es nur Gewinner: dem göttlichen Willen nach zahlenmäßiger Stärkung des „Volkes von Tausi Melek“ wurde Genüge getan, Hawa muss ihren Adam nicht mit einer anderen Frau teilen, der Engel Jibr’il hat seine Fähigkeit als Diplomat bewiesen, und ein junger Behinderter konnte zum Stammvater der Yeziden werden.

Hier sei mir ein Vergleich zur jüdischen Mythologie erlaubt, wo die gleichen mythischen Wurzeln vorhanden sind, die Mythen aber anders gestaltet wurden. Da wird der Rausschmiss aus dem Paradies nicht mit Adams Blähungen begründet, sondern in erster Linie Hawas List und Verführung zur Last gelegt. Sie wird hart bestraft: „Mit Schmerzen sollst du Kinder gebären. Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen.“ (Genesis 3: 16) Da ist also – ganz im Gegensatz zum yezidischen Mythos – in einem Kernsatz der Theologie die Versagung der Gleichberechtigung der Frau mit göttlicher Autorität festgeschrieben worden.

In 2500-jähriger mitunter leidvoller Nachbarschaft voller Verachtung und Verfolgung ist sicher vor allem für yezidische Männer die Stellung der Frauen bei Juden, Christen und Moslems mitunter arg attraktiv erschienen. Und wie bei anderen erworbenen Traditionen auch wurde manches davon übernommen und erschien im Laufe der Zeit als eigene Tradition. Für die heutige yezidische Theologie sollte darum erforscht werden, wie weit die heute ausgeübte Pflege der Tradition den Wurzeln der yezidischen Mythologie entspricht und was als spätere „Zugabe“ erklärt werden müsste. Danach sollte geklärt werden, ob eine Rückkehr zu den Wurzeln vielleicht sogar die modernste Form des Yezidentums darstellen könnte. Dann könnte man vielleicht gar die These wagen, dass „westlich-emanzipierte“ Frauen nur vorleben, was für Yezidinnen seit Urzeiten zu den religiösen Selbstverständlichkeiten gehörte, was sie nur unter fremdem Einfluss verlernt hatten.

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