Aufgeschrieben und zugehört – Geschichte wird gemacht

Die Menschen des Altertums waren mindestens so neugierig wie die heutigen. Nur konnte ihre Neugier nicht wie heute durch ausgeklügelte Maschinen befriedigt werden, sondern dies geschah durch die Fremden, die vorüberzogen: Nomaden und Händler. Nicht zuletzt daher rührt die viel gerühmte orientalische Gastfreundschaft. Man bot jedem Gast Unterkunft, Nahrung und Schutz - und erwartete etwas Unerhörtes: Geschichten. Am Ende wurde für viele Völker des Orients aus Geschichten Geschichte. Was die Objektivität betraf, so war man nicht pingelig: "und wenn`s auch nicht die Wahrheit war, so war`s doch gut erfunden". Die Messlatten waren anders geartet als heute.

Es ist zu einfach, in diesem Zusammenhang heute von "Lüge" zu sprechen. Denn auch was aufgeschrieben wurde, ließ jede Objektivität nach heutigem Maß vermissen. Aufgeschrieben wurde von den Schreibern an den Schaltstellen der Macht, aufgeschrieben wurde, was dem Ruhm der Herrscher diente und selbstverständlich, was dem Ruhm der Gottheiten diente, denen die Stammvaterschaft zugeschrieben wurde für die jeweiligen Herrscherhäuser.

Aufgeschrieben wurde, was die Menschen draußen im Lande glauben sollten. Das kam wohl nie in die Zeltlager der Ziegen-Nomaden, höchstens als Bericht von einem, der gehört hatte, wie ein anderer den Text von solch einer Tafel vorlas, in die das letzte Dekret des Herrschers geritzt war. Geritzt war die Sache für die Beamten und manchmal auch für schriftkundige Händler. In die Hütten und Zelte aber kamen dann Auslegungen, die abhängig waren vom Kenntnisstand wie von der momentanen Stimmung des Erzählers.

Es ist nicht ganz einfach für uns Taschenbuchkonsumenten, mündliche Überlieferungen angemessen zu würdigen. Denen, die die alten Geschichten noch erzählen - und folglich auch zuhören - können, erscheinen wir mitunter als hörbehindert, vielleicht zu Recht. Wir, die so eifrig nach Alphabetisierung rufen, sollten doch auch lernen zuzuhören, unsere Konzentration auf das gesprochene Wort trainieren - eine neue Erfahrung für viele von uns.

Optimal ist natürlich beides: den Erzählungen zuhören und folgen, aber auch, die schriftlichen Quellen lesen, verstehen, vergleichen und danach kritisch kommentieren zu können. Dadurch erschließt sich Geschichte auch für die, die gerade nicht herrschen und macht sie mitunter für die Herrschenden auf allen Ebenen, den weltlichen wie den religiösen, so gefährlich, dass in vielen Gesellschaften kein Versuch als zu teuer und keine Verleumdung als zu abwegig erachtet wurde, um den Beherrschten möglichst viel Wissen vorenthalten zu können – mitunter mittels tatkräftiger Hilfe durch die Erziehungsbürokratie und die Lehrer- wie auch die Priesterschaft. Das war schon so, bevor George Orwell seine berühmten Romane schrieb.

Wer sich und sein/ihr Verhalten in dieser abstrakten Beschreibung wiederfindet, mag sich den dargebotenen Schuh anziehen, soll jedoch nicht allzu verwundert sein, wenn der Schuh passt.

Karl G. Mund


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