Märtyrer
Ich bin vor kurzem
gebeten worden, etwas über das Thema Märtyrer und ihre Bedeutung für
die Êzîden zu schreiben. Ich sehe zwar keinen Grund dazu, weil die
Religion der Êzîden solche Taten, die von den "Märtyrern"
begangen werden, grundsätzlich ablehnt und Êzîden deshalb dem Märtyrertum
mit Abscheu begegnen. Aber ich werde trotzdem meine Meinung zum
Ausdruck bringen, soweit meine Kenntnisse dazu reichen.
Zunächst sollten wir
erfahren, was der Begriff "Märtyrer" bedeutet und wie man
"Märtyrer" wird, bzw. dahin getrieben wird.
Um diese Fragen zu
beantworten muss man sich gründlich mit solch einem komplizierten
Thema auseinander setzen und genau das habe ich bis jetzt noch nicht
getan. Weil das Wort von den Medien uns stets ins Ohr gebrüllt wird
und kaum ein Artikel über den Islam und Nahen Osten geschrieben wird,
ohne dass das Wort "Märtyrer" darin vorkommt, habe ich mir
sehr oft darüber Gedanken gemacht und mit Entsetzen an die Opfer
gedacht, die man als lebend als schreckliche Bomben benutzt und sie
und zahlreiche andere ebenfalls meist junge Menschen, die das Leben
noch nicht gekannt haben, in den Tod schickt. Junge Menschen werden
dressiert, ja abgerichtet, um mit sich andere Unschuldige in den Tod
zu reißen.
Wenn ich Artikel in
den Printmedien drüber lese oder im Fernsehen mir die zerfetzten
Menschenteile anschaue, da bete ich zu Gott, daß ich und mir bekannte
Menschen nicht unter den Leidenden sind. Mich erzürnt, wenn manche
Eltern ihre Kinder lobpreisen, die sich als Bomben inmitten von
Menschenansammlungen in die Luft jagen, und sie als "heilige Märtyrer"
bezeichnen, die im Paradies auf sie warten würden. Die Verwandten,
die solcher Gehirnwäsche unterzogen wurden, glauben ernsthaft daran,
dass ihre Kinder mit ihrem Tod die Tür ins Paradies für die ganze
Sippe geöffnet haben, deshalb jubeln sie anstatt zu trauern.
Nun komme ich zu der
Frage: Woher kommt die ursprüngliche Idee zum Märtyrertum?
Bei den Juden wird als
Märtyrer bezeichnet, wer vor aller Öffentlichkeit "in den Tod
geht zur Heiligung des Namens Gottes". Märtyrertum wird
verstanden als "höchster Akt des Glaubens und endgültiger
Beweis der Bereitschaft eines Menschen, Gott, den Herrn mit seiner
ganzen Seele zu lieben - selbst, wenn Gott die Seele nimmt."
(aus: Enzyklopädie der jüdischen Religion). Dort wird auch kritisch
darauf hingewiesen, daß Selbstmord aus anderen Gründen eine schändliche
Sünde ist. Gleichwohl haben zur Zeit der Kreuzzüge jüdische
Gemeinden im Rheinland kollektiv Selbstmord begangen, als sie zur
Taufe gezwungen werden sollten und verstanden dies als eben jenen höchsten
Akt ihres Glaubens und sich selbst als Märtyrer.
Die frühen Christen
übernahmen weitgehend das jüdische Verständnis vom Märtyrertum,
jedoch erfuhr das Märtyrertum hier schon früh eine Art Inflation.
Man hatte sich angewöhnt, auf den Gräbern von Blutzeugen diese
Glaubens Messen zu lesen, worauf die Kirchenbehörden beschlossen, Märtyrerreliquien
in die Altäre der Kirchen einzubauen. Da wollte dann jede Gemeinde
"ihren Märtyrer" haben, und als die ursprünglichen Überreste
nicht ausreichten, mußten neue her, und so kam manch eine(r) mehr aus
Versehen "zur Ehre der Altäre" und manche Rauferei um Land
und Schwester eines Andersgläubigen wurde zum Religionskrieg.
Da der Islam ausgeht
von der Idee des Staates als Instrument Allahs, sind folglich alle
Kriege Glaubenskriege und wer da umkommt, kommt für seinen Glauben
um. Damit wäre der Gipfel der Märtyrerinflation erreicht.
Spätestens im 20.
Jahrhundert, als
Antwort auf die bolschewistische Revolution in Russland, haben
dann auch die weltlichen Mächte Europas das Märtyrertum als
politisches Instrument zur Beeinflussung der Massen entdeckt. Da wurde
offensichtlich, dass da eine die Fantasie junger Menschen mißbrauchende
schreckliche Erfindung von Menschen ist, um andere Menschen für ihre
eigenen Vorteile in den Tod zu schicken. Erstaunlich ist, dass
skrupellose Menschen, die sich "Führer",
"Prediger", "Geistliche" usw. nennen, noch immer
so junge Menschen für solch unmenschliche Taten überreden können
und diese scheinbar freiwillig, fast wie laufende Statuen ohne
jegliche Gefühle, sich und andere Menschen grausam töten.
Von den Kriegsherren
wird immer beteuert, dass die Zukunft der Bürger des Landes in höchster
Gefahr sei und deshalb ein Krieg unabwendbar ist. Damit werden die Bürger
ängstlich gemacht und ohne es zu merken werden sie auf einen Krieg
vorbereitet. Ihnen wird eine bessere Zukunft nach dem Krieg
versprochen ohne sie merken zu lassen, dass sie danach möglicherweise
keine Zukunft haben werden, weil sie diese Zukunft nie lebend
erreichen werden.
Diese Ängste werden
ihnen dadurch weggenommen, indem man ihnen mindestens ein besseres
Leben verspricht. Ob sie überleben werden oder nicht, die bessere
Zukunft sei ihnen auf jeden Fall sicher, wenn nicht in diesem Leben,
dann im Paradies, so wird ihnen gesagt. Und so werden die Menschen
gegeneinander gedrillt. Und sie kämpfen gegeneinander mit allen
Mitteln, die ihnen zur Verfügung gestellt werden.
Um ein allen bekanntes
Beispiel zu nennen: Seit nunmehr rund 80 Jahren kämpfen moslemische
aber zum Teil auch christliche Palästinenser und Juden um den Besitz
eines Landes, das beide als "heilig" betrachten. Die
israelische Armee (in der übrigens auch moslemische Beduinen und
Drusen dienen) verfügt über modernste Waffen, während die Palästinenser
nicht so gut ausgerüstet sind, wohl auch, damit sie nicht gegen die
Herrscher der umliegenden arabischen Staaten antreten können.
In dem ungleichen
Kampf um den Besitz heiliger Orte und um das Recht auf Rückkehr in
eine Heimat, die ihnen seit 1948 stückweise geraubt und durch jüdische
Siedler besetzt wurde, setzen sie auch ihre eigenen Kinder als Waffe
ein. Dabei nehmen sie nicht nur den Tod vieler ebenso junger Menschen
in Israel in Kauf, sonder betrügen ihre Kinder um deren Zukunft, für
die sie angeblich kämpfen.
Nun kehre ich zurück
zu der eigentlichen Frage: wie stehen die Êzîden diesem Problem
gegenüber?
In der êzîdischen
Religion wird das Wort "Märtyrer" nirgends erwähnt. Auch
ihre unzähligen getöteten Verwandten werden nicht als Märtyrer
bezeichnet. Die Êzîden glauben, dass nur Gott allein darüber
entscheiden kann, wer nach dem Tod in das Paradies und wer in die Hölle
kommt. Niemals kann ein Mensch über diese Frage entscheiden.
Aber scheinbar hat die
Realität auch die Êzîden überholt. Ihre Kinder, die neuerdings im
sogenannten Kampf um einen befreiten Kurdenstaat umgebracht werden,
nennt man nun auch "Märtyrer". Damit wird die Lehre der êzîdischen
Religion in Frage gestellt. Man sollte so ehrlich sein und dabei auch
erwähnen, dass die meisten getöteten Êzîden in den Kämpfen
zwischen kurdischen Gruppierungen umgebracht worden sind und so einem
ausgesprochen unheiligen Krieg zum Opfer gefallen sind. Es ist eben
kein Geheimnis, dass mehr Kurden in den Kämpfen zwischen PDK, PUK und
PKK, den kurdischen Parteien in der Türkei und dem Irak, die
wechselweise gegeneinander gekämpft haben und zum Teil immer noch kämpfen,
umgekommen sind. Und nicht, wie es immer heißt, gegen den Feind, z.B.
das türkische Militärregime oder die Saddam-Diktatur.
In welchem Krieg auch
immer die Menschen getötet werden, ob sie sich selber in die Luft
jagen oder als ahnungslose Passanten, niemand darf hoffen dadurch ins
Paradies zu kommen. Töten ist Sünde und bleibt Sünde, deshalb darf
sie von Menschen nicht begangen werden. Die êzîdische Religion kennt
das Monstrum "Märtyrer" nicht und lehnt es strikt ab, und
nichts kann es rechtfertigen.
Ferhun Kurt
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