Rosinenpicker Nr. 1, vom 12. Mai 2005

von Karl G. Mund

Die "Frankfurter Rundschau" titelte am 6. Mai 2005"... Michael Wolffsohn irrlichtert durchs Land" und schreibt, wie der prominente Jude Wolffsohn den SPD-Chef Müntefering des Antisemitismus bezichtigt. Hätte der liebe Michael doch besser aufgepasst knapp 2 Wochen zuvor bei der Verlesung der Haggadah beim festlichen Passah-Mahl. Dort werden unter den 10 Plagen, mit denen der Gott Israels die Ägypter strafte, eben jene Heuschrecken erwähnt, von denen, wenn auch in anderem Zusammenhang, Franz Müntefering sprach. Wenn also Franz meint, einige Kapitalisten benähmen sich wie die Plagegeister, die Gott den Feinden Israels sandte, und Michael das als Antisemitismus versteht, dann muss man schlussfolgern, dass der Professor aus München seinen Gott als Antisemiten ansieht. Irrlichterei, echt.

Am 24. April wird erinnert an den Beginn des Genocids an den Armeniern vor nunmehr 90 Jahren. Ähnlich wie in Deutschland tut man sich auch in Israel offiziell schwer, die Sache beim Namen zu nennen. Mir fällt es auch nicht leicht, denn solche Begriffe verlieren an Wert, wenn sie zu weitläufig benutzt werden. Die Geschichte der letzten 100 Jahre hat uns gelehrt, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Andererseits überzeugt mich die Darstellung, die der israelische Parlamentsabgeordnete, Journalist, Ex-General und heutiger Aktivist der isr. Friedensbewegung, der frühere Erziehungsminister Yossi Sarid am 27.04.2005 in einem Artikel für die liberale Tageszeitung "Ha'aretz" geschrieben hat:

"That entire debate about whether there was or wasn't genocide is foolish and ugly. Nobody disputes the fact that more than one million Armenians were murdered during a two-year period, and a million people are not murdered without planning and without organization. The Turks can invent a thousand reasons to explain what happened, but of what importance will that be when the important thing is that people, women, men, children, died strange and ruthless and unnatural deaths?"

Und wer sonst noch schnell und verlässlich informiert werden möchte über die Vorgeschichte jener Ereignisse, schaue nach im Forum "Geschichte" von Dengê Êzîdiyan, wo mein Freund "Xeribo" am 29.04.2005 ausgiebig armenische und yezidische Historiker zu diesem Thema zitiert hat.

Unser Bundespräsident hat dann eine Rede geredet zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Darin sagte er auch: "Europa ist heute geprägt von Freiheit, Demokratie und der Geltung der Menschenrechte. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang an - über alle Regierungswechsel hinweg - für diese Grundwerte und für die europäische Einigung eingesetzt. Deutschland ist heute - wohl erstmals in seiner Geschichte - rundum von Freunden und Partnern umgeben. Zwischen uns ist Krieg unmöglich geworden".

Am 8. Mai 1945 war ich gerade mal eineinhalb Jahre alt, Befreiung war noch kein Begriff für mich. Und die Menschen in meiner Umgebung redeten nicht von Befreiung. Mutter und Großmutter waren erleichtert, dass keine Bomben mehr fielen, noch mehr als 1 Jahr später mein Vater aus der Gefangenschaft entlassen wurde, und erst 1948, als Mutters Bruder aus Sibirien heimkam, war die Erleichterung vollkommen. Aber es dauerte noch 2 Jahrzehnte, bis das Bewusstsein der Befreiung sich ausbreitete und Platz machte für Freundschaft mit den benachbarten Völkern. Ob wohl ein yezidisches Kind, das heute in Kurdistan geboren wird, in 60 Jahren sagen kann, sein Ort, sein Land ist von Freunden umgeben? Oder der kleine Azad, den ich im Kinderwagen mehrmals in der Woche durch Diepholz fahre?

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