Rosinenpicker Nr. 7, vom 26. Juni 2005

von Karl G. Mund

Liebe Leser, könnt Ihr Euch vorstellen, dass yezidische und muslimische Schüler in Midyat wie in Mosul, Aleppo, Täbriz, oder auch Celle die historische Sichtweise der jeweils anderen Kultur lernen? „Dumme Frage“, höre ich manche von Euch sagen, „jeder Schüler lernt genau die historische Sichtweise der Mehrheitsgesellschaft, in deren Grenzen er lebt. Wer sind wir denn, dass deutsche Schüler in Celle oder sonstwo yezidische Geschichte lernen sollen?“ Also lernen yezidische Schüler in Deutschland weiter über den Kreuzritter Gottfried von Bouillon, während für deutsche sein Zeitgenosse Adi bin-Musafir „irgend so’n Kameltreiber“ war.

Nun, die Unkenntnis der jeweils fremden historischen Sichtweise, in Tateinheit mit nationalistisch-populistischer Propaganda, hat im Verlauf der Menschheitsgeschichte in all den genannten Orten irgendwann einmal dazu geführt, dass der jeweils anderen und darum fremden Kultur der Eigenwert abgesprochen, diese darum als „feindlich“ abgestempelt und die daraus resultierende Sichtweise weitgehend gläubig akzeptiert wurde. Für die Christen unter meinen Lesern: Nur wer das historische Selbstwertgefühl der als „Feinde“ bezeichneten Menschen kennen zu lernen wagt, kann sie später auch lieben. Jesus würde einer christlichen Partei eine Politik mit anderer Ausrichtung nicht erlauben. Zarathustra hätte wohl ähnlich gehandelt und auch von Sufis habe ich gehört, dass sie das so sehen. Aber wer richtet sich noch nach derartigen „Softies“, wenn es um Machterhalt oder Machtgewinnung geht?

Ständige Leser meiner Kolumne werden jetzt vermuten, dass ich mal wieder eine Rosine aus meinem Lieblingsblatt Ha’Aretz gepickt habe. Stimmt. Solange es zwischen Nil und Indus kein vergleichbar gutes Blatt in einer west- bzw. zentraleuropäischen Sprache gibt, muss ich immer wieder darauf zurückgreifen. Auch deshalb, weil der Konflikt Israel/Palästina viele Vergleiche zu der Situation von Yeziden innerhalb der Territorien zulässt, in denen sie leben. Man muss nur einen Rollentausch bezüglich der jeweiligen underdogs beachten.

Die Wochenendausgabe von Ha’Aretz (www.haaretz.com) berichtet von der Herausgabe eines Studienbuches zum Geschichtsunterricht, das zweisprachig in arabisch und hebräisch beide Sichtweisen der historischen Entwicklung in Palästina/Israel seit Napoleons Feldzug dorthin nebeneinander stellt. Als Autoren zeichnen der Verhaltenswissenschaftler Prof. Dan Bar-On von der Ben-Gurion-Universität in Beer-Sheva und der Erziehungswissenschaftler Prof. Sami Adwan von der Universität Bethlehem. Seit zwei Jahren haben 20 Sekundarschullehrer aus Ost-Jerusalem und Hebron bzw. aus dem Großraum Tel-Aviv dieses Material mit Arbeitsgruppen ihrer Schüler getestet. Als erstes Resultat wird festgehalten, dass Schüler, die dieses Material durchgearbeitet hatten, sich von Geschichte der jeweils „anderen Seite“ weniger bedroht fühlten, nachdem sie gelernt hatten, dass wer auf der einen Seite als Mörder gilt, mitunter auf der anderen als Held verehrt wird, und umgekehrt.

Die nächste Rosine kam zu Beginn der abgelaufenen Woche in den Fernsehnachrichten: Den diesjährigen „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ erhält Orhan Pamuk, gegen den in der Türkei gerade eine Hexenjagd losgetreten wurde, weil er nicht nur pro-kurdische Artikel schriebt, sondern auch die Verantwortung der jungtürkischen Regierung für den Genozid an den Armeniern benannt hatte. Schwere Zeiten für Abdullah Gül, und diesmal heulte mein virtuelles Schmusekrokodil dicke Freudentränen. 

Die letzte Rosine kommt vom Westdeutschen Rundfunk: In der Talkshow „westart“ wurde heute mittag die Theaterschauspielerin Susanne Barth interviewt, und es wurden Szenen aus dem Stück „Mutters Courage“ von Georges Tabori gezeigt, wo sie die Hauptrolle spielt. Das ist ein Hommage an Taboris Mutter, die in Auschwitz sich nicht in die ihr zugedachte Rolle fügte, sondern „den Mächtigen die Wahrheit sagte“ und dadurch überlebte, wie Tabori glaubt. Liebe Leserinnen und Leser, wenn das Stück in Eurer Nähe gespielt wird: Unbedingt hingehen, es lohnt die Mühe.

P.S.: Wenn Leserinnen und Leser dieser Kolumne woanders „Rosinen“ finden, bzw. Gazetten in einer mir verständlichen Sprache (deutsch oder englisch, evtl. auch nederlands oder vlaams, das kann ich zwar nur mühsam sprechen aber gedruckt einigermaßen verstehen) bin ich für entsprechende Hinweise dankbar. Auch Gastbeiträge und Kommentare werden geprüft und in enger Absprache mit den Einsendern redaktionell bearbeitet. Alles an die bekannte Adresse: 3517-655@online.de

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