Rosinenpicker Nr. 13, vom 08. September 2005

von Karl G. Mund

Alle reden von der großen Flut, ich nun auch. Christlichen Kindern wird von frommen Verwandten von klein auf beigebracht, sich vor dem "Versucher" in Acht zu nehmen. Im Evangelium nach Matthäus steht im 4. Kapitel, dass "der Versucher" Jesus nach langem Fasten (40 Tage, wie es auch fromme Yeziden tun) behelligte: >Und der Versucher trat zu ihm und sprach: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“< In den Kindergeschichten folgt dann eine phantasievolle Beschreibung des "Versuchers" als des leibhaftigen Bösen. Und im Kinde entsteht der Eindruck, dass der/das Böse immer ein Anderer, etwas Anderes, ist. Die yezidische Tradition lehrt, dass beides in den Menschen vorhanden ist, Gutes wie Böses, und es ist Sache der Entscheidungsfreiheit der Menschen, ob sie dem Einen oder dem Anderen folgen. Zur Identität der Menschen gehört demnach auch der ständige Versuch, die Grenze zwischen Gut und Böse ständig zu suchen und ständig auszuloten, wie weit sie auf dem Grat voran kommen können.

Die Ergebnisse dieser Gratwanderung tragen auch beide Elemente in sich. Sie werden offenbart als historischer Fortschritt, denn ohne Versuch(ung) gibt es keine Weiterentwicklung. Die "Versucher" in uns Menschen veranlassen uns, an den Hängen von Vulkanen ebenso zu siedeln wie im Mündungsdelta mächtiger Ströme, denn die Ergebnisse unserer Versuche im Laufe von Jahrtausenden lehrten uns, dass dort die Erde besonders fruchtbar ist, der Anbau der zum Lebensunterhalt und zur Tierhaltung benötigten Früchte besonders ertragreich und die Arbeit weniger mühsam als anderswo. Folglich sind diese Regionen der Erde besonders dicht bevölkert. Ist ja auch kein Problem, solange nicht die Flut kommt, sei es Lava und Schutt wie am Mount Pinatubo, ein Tsunami im indischen Ozean wie letztes Jahr zu Weihnachten oder in diesen Tagen die Flutwelle im Zusammenhang mit Hurrikan Katrina. Die Verantwortlichkeit der Menschen für die von ihnen selbst geschaffenen Lebensumstände lässt sich nicht abwälzen, schon gar nicht auf Gott ("Wie konnte Gott das zulassen?").

Es war deshalb sehr informativ, in der „Frankfurter Rundschau“ zu lesen, wie fundamentalistische Christen zum Teil selbstlos den aus New Orleans evakuierten Hurrikan-Opfern halfen, andere aber sich freuten, dass die „Stadt der Sünde“ von Gott gestraft wurde und z.B. die meisten der dort befindlichen Abtreibungskliniken zerstört wurden. Auf solche Gedanken kann nur jemand kommen, für den „das Böse“ Gottheitscharakter hat. Ovadja Yosef, ein früherer israelischer Oberrabiner und heute geistlicher Führer der rechtsextremen „Shas“-Partei hatte laut „Ha'Aretz“ eine besonders skurrile Erklärung: Mit Katrina bestrafe Gott George W. Bush, weil der Druck auf die israelische Regierung ausgeübt und so den Abzug der jüdischen Siedler aus dem Gaza-Streifen erzwungen habe. Beide Erklärungen müssen Yeziden recht abwegig erscheinen.

Diejenigen, die das augenblickliche Unglück verschonte, haben wenig Grund zur Schadenfreude, ihre Versuchungen sind anderer Art. Etwa: Wie lässt sich aus Nuklearenergie möglichst profitabel Strom erzeugen, wobei klar ist, dass die Umweltverträglichkeit der Technologie den Profit schmälern oder gar auffressen wird? Wie kann man vorhandene Waffen noch mörderischer machen? Wie lassen sich Vorteile erzielen auf Kosten anderer Menschen? Das beschreibt die umfassendste Versuchung nicht nur unserer Zeit. Der Jesus der christlichen Legende hat den Versucher in sich zurückgewiesen und ist deshalb zu Recht Vorbild für viele Menschen, als Prophet auch für Yeziden. Derweil wird im Werbefernsehen Reklame gemacht für kalorienarme Gummibärchen und Softdrinks mit dem Ohrwurm-Songtext: "Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht!"

Es ist viel Kritisches gesagt worden zur Rolle der US-Regierung und ihres Präsidenten im Rahmen der „Bewältigung“ dieser Flutkatastrophe. Aber dann zeigte CNN George H. W. Bush senior mit Ehefrau Barbara bei den Evakuierten im Astro-Dome in Houston. Klar, dass man zu einem solchen Anlass nicht in Smoking und Abendkleid erscheint, aber die alten Bushs waren ausstaffiert, als wäre sie geradewegs vom Unkrautjäten und er vom Rasenmähen gekommen: die netten Nachbarn von nebenan, zupackend und immer hilfsbereit. Allerdings, was sie sagten, zeigte schnell die soziale Differenz. Die frühere First Lady stellte fest, dass die Leute in diesem Notquartier ja vorher schon arm waren und es nur doch recht gut hätten. Und sie zeigte sich besorgt, dass sie vielleicht vorhätten, auf Dauer in Texas zu bleiben. „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“, sagte in dieser Hinsicht zur Zeit der amerikanischen Revolution die französische Königin Marie-Antoinette, als sie ihren Kopf noch oben trug.

Ich erinnerte mich an den Ausspruch eines texanischen Freundes zur Zeit der Reagan-Administration: „In Texas muss alles immer noch gewaltiger sein als anderswo.“ Also auch das Zelebrieren von Einfachheit und Mitleid. Und während immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass Nahrung und Trinkwasser fehlten für diejenigen, die nicht mehr fliehen konnten, bevor das Wasser über sie kam, schlich sich ein satirischer Gedanke bei mir ein: Da rühmt sich die stärkste Militärmacht dieser Erde, dass sie mit ihren Präzisionswaffen dem Saddam quasi die Blumenvase vom Nachttisch schießen können, aber es fehlt an Transportmitteln für Wasserflaschen und Lebensmittelpäckchen ins überschwemmte New Orleans.

Alles schaut auf New Orleans. Die Tigris-Brücke in Bagdad scheint schon vergessen, jedenfalls hier. Aber fast 1000 Opfer erinnern uns weiterhin an eine besondere Qualität politischen Terrors, die nicht neu ist, nur bisher nicht so im Licht der veröffentlichten Nachrichten geschah: ein gezieltes Gerücht ist für die Herren des Terrors wirksamer als Dutzende von Granaten oder Autobomben. Ich erinnere mich an eine berühmte Grafik des vor und nach 1945 sehr aktiven Künstlers A. Paul Weber. Sein surreales „Gerücht“ überschattete die Menge der entgeisterten Menschen, begrub sie quasi unter sich. Seit der Panik in Bagdad kennen wir die realen Bilder.

 

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