Rosinenpicker Nr. 19, vom 11. September 2006

von Karl G. Mund

 

„Warum beschäftigst Du Dich so häufig mit den Angelegenheiten von Palästina/Israel, wenn Du Deine Kolumne doch in erster Linie für êzîdische LeserInnen schreibst?“ werde ich manchmal von Menschen gefragt, die meine Beiträge regelmäßig lesen. Manche wissen, dass ich gute Freunde habe auf beiden Seiten der dortigen Demarkationslinien. Ich sehe in den Auseinandersetzungen dort ein Beispiel, das mit seinen Fehlleistungen aber auch mit seinen Errungenschaften Maßstäbe setzt. Im Süden wie im Norden Kurdistans könnte es nützlich sein, dieses Beispiel gut zu kennen, damit nur die Errungenschaften und nicht die Fehlleistungen zum Maßstab für die Zukunft Kurdistans und damit auch für die Zukunft der êzîdischen Glaubensgemeinschaft werden.

In diesen Tagen werde ich darin durch einige Debatten im türkischen Parlament bestätigt, wo recht heftig gestritten wird um die Entsendung eines türkischen Truppenkontingents zur UNIFIL im Libanon. Da tun sich besonders Abgeordnete der angeblich sozialdemokratischen Opposition (CHP) hervor, die Angehörige der Regierungspartei AKP zu einem Invasionsabenteuer in die zur Region Kurdistan der Föderalen Republik Irak gehörende Gegend um das Qendil-Bergmassiv treiben wollen, bevor türkische Soldaten nach Libanon entsandt werden. Und dabei wird das Gespenst eines israelisch-kurdischen Bündnisses gegen die Türkei an die Wand gemalt.
(http://www.thenewanatolian.com/opinion-14461.html).

Der ehemalige türkische Botschafter in Washington und heutige CHP-Abgeordnete für Istanbul, Sukru Elekdag, begründete seine Opposition zur Entsendung türkischer Truppen in den Libanon mit dem Hinweis auf ein Thesenpapier, das in der zionistischen Zeitschrift „Kivunim“ („Richtungen“) im Jahre 1982 beim ersten Invasionskrieg Israels im Libanon veröffentlicht wurde und von islamistischen Kreisen als Zeugnis der aggressiven Politik aller israelischen Regierungen verwandt wird. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass es z.B. auf der Website „Radio Islam“ in der engl. Übersetzung durch den berühmten israelischen Naturwissenschaftler und Regierungskritiker Israel Shachak verbreitet wird: http://www.radioislam.org/islam/english/toread/kivunim.htm. Bei diesem Stück handelt es sich aber nicht um eine Regierungsmeinung sondern um private Thesen des politisch weit rechts (auch noch rechts von der damaligen Regierung Begin) stehenden Journalisten Oded Yinon. Wobei natürlich diese Thesen auch sicherlich die Meinung damaliger Regierungsmitglieder repräsentierten, z.B. A. Sharon, schließlich war Yinon durch frühere Tätigkeiten im Regierungsdienst Mitglied des politischen Establishments.

Der Tenor dieser Thesen las sich für mich wie Thesenpapiere von deutschen Professoren vor und während des 1. Weltkrieges, die sich öffentlich Gedanken machten, wie die deutschen Kolonialgebiete nach dem erhofften „Sieg-Frieden“ auszuweiten wären. In diesen Gedankengängen waren übrigens auch detaillierte Pläne zur Kolonialisierung des Irak zu finden, die durch das von der Deutschen Bank gesponserte Projekt „Bagdad-Bahn“ erschlossen werden sollte, mit dem erhofften Ergebnis, das Öl von Kirkuk und Mosul für das deutsche Kaiserreich verfügbar zu machen, natürlich in freundschaftlicher Partnerschaft mit dem damals noch regierenden Sultan. Und ebenso natürlich ohne Rücksicht auf die Interessenlage von Kurden oder gar Êzîden. Mein Optimismus gründet sich aber darauf, dass die Geschichte gewöhnlich nicht so verläuft, wie die jeweils vorherrschenden maximalistischen Strömungen es gerne hätten. „Denn die Verhältnisse, sie sind nicht so“, heißt es in der Dreigroschenoper.

Im Interview mit dem ehemaligen Vize-Außenminister und heutigen stellvertretenden Parteichef der CHP, Onur Oymen (http://www.thenewanatolian.com/tna-14428.html) begründet Oymen die Opposition seiner Partei zur Entsendung von türkischen Truppen in den Libanon mit dem Vorrang von politisch-militärischen Aktionen im Grenzgebiet Türkei-Irak, eben im Gebiet um Qendil. Er drückte das allerdings etwas diplomatischer aus als die Wadenbeißer seiner Fraktion in der Parlamentsdebatte.

Wie sehr die augenblickliche Kontroverse zwischen Israel und der gegenwärtigen Hamas-Regierung in den besetzten Gebieten und die Kriegsszenarien der vergangenen Wochen im Libanon die gesamte Region gefährden, hat wohl selten jemand so treffend auf den Punkt gebracht wie Rauf Nakishbendi in dem Artikel vom 28. Juli 2006: http://www.kurdmedia.com/articles.asp?id=12908

Andererseits ist trotz aller Fortschritte auf dem Wege zu einer gesicherten Demokratie in der Region Kurdistan die Presse dort noch nicht so frei wie z.B. in Israel. Wobei es natürlich nicht unbedingt hilfreich ist, wenn die Freiheit der Presse dazu genutzt wird, historische Führer wie Mustafa Barzani zu verleumden, selbst wenn diese Vorwürfe einiges an Substanz haben mögen:
http://www.kurdmedia.com/articles.asp?id=13133,
http://www.kurdmedia.com/articles.asp?id=13147,
http://www.kurdmedia.com/articles.asp?id=13205.

Unter der Verfolgungssituation haben alle historischen Führer Kurdistans mitunter Allianzen geschlossen, die uns heutigen Beobachtern schwer verständlich sind. Es ist sicher eine fragwürdige Politik, die davon ausgeht, dass der Feind meines Feindes unbedingt mein Freund sein sollte. Die englische Sprache kennt da den Begriff „strange bedfellows“, und die hat es in der kurdischen wie der êzîdischen Geschichte in den vergangenen 100 Jahren wohl einige Male zu oft gegeben.

Ich habe in dieser Kolumne schon mehrmals auf die hervorragenden Artikel der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ hingewiesen. Dort kommen regelmäßig Vertreter beider politischer Lager zu Wort. Auch einige der oben erwähnten Maximalisten wie z.B. der ehemalige Botschafter Israels in Bonn und spätere Verteidigungsminister, Moshe Arens, oder in diesen Tagen der Vorsitzende der „nationalreligiösen Partei“ Effie Eitam und der Vorsitzende der Partei „Yisrael Beiteinu“, der aus Russland zugewanderte Avigdor Lieberman. Die müssen sich dann aber in der Regel gleich mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzen, und das sind meines Erachtens die kompetenteren Autoren:
http://www.haaretz.com/hasen/spages/761015.html,
http://www.haaretz.com/hasen/spages/761308.html
http://www.haaretz.com/hasen/spages/760586.html,
http://www.haaretz.com/hasen/spages/760243.html.

Ebenso interessant wie mitunter erschreckend sind die als „Talkback“ im Anschluss an die Artikel veröffentlichten Leserkommentare. Da äußert sich – zumeist unter dem Schutz des Pseudonyms – oft der nackte Faschismus. Doch da das Blatt international gelesen wird, kommen Reaktionen aus aller Welt, in den letzten Wochen auch vermehrt aus arabischen Ländern, und während des jüngsten Krieges besonders viele aus dem Libanon. Aber es ist wichtig, dass alle diese Stimmen öffentlich gemacht werden, damit niemand überrascht werden kann von einer „Machtergreifung“.

Genau das wünsche ich mir von der kurdischen Presse. Zur Zeit ist das lediglich – und auch nur in den ersten Anfängen – in der Region Kurdistan der Föderalen Republik Irak möglich. Ich hoffe, dass die Mitglieder des kurdischen Parlaments den Mut und die Kraft haben, eine Entwicklung zu umfassender und verantwortlicher Pressefreiheit in Gang zu bringen. Damit eine Institution wie "Kurdmedia" demnächst nur noch ein nachgeordnetes Korrespondenzbüro in London unterhalten muss, und nicht mehr den Hauptsitz.

 

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