Gastkommentar

Hallo,

die Zeit, um alle Ihre Beiträge zu lesen, habe ich – so gerne ich mich vorzugsweise dem widmen würde – leider nicht.

Mich interessiert eines: Unser Newroz-Fest wird nun überall, wo wir Kurden präsent sind, mit Govends begrüßt; diverse Veranstaltungen finden Hand in Hand von Kurden aus allen Teilen in und außerhalb Kurdistans statt.

Wir haben endlich ein kurdisches Parlament in Irakisch-Kurdistan, was allen Kurden Hoffnung verleiht und die Selbstbewusstseins- und Gemeinsamkeitsgefühle unseres Volkes nach dieser ersehnten Hoffnung stärkt.

Zunehmende Veränderungen, Vorstellungen und Ideen erlangen, wenn auch langsam, Hand und Fuß. Angesichts dieser Entwicklung würde ich es begrüßen, wenn auch die êzîdische Gesellschaft nicht so verschlossen und streng gegenüber den nicht-êzîdischen Kurden wäre, die damals, heute oder wann auch immer zwangskonvertiert wurden.

Wir sind eine Einheit. Dieses Gefühl wurde uns genommen, indem man uns hat entnaturalisieren wollen. Aber die êzîdische Religion ist ohne die kurdische Kultur nicht denkbar. Sie sind >Eins<. Ich finde, zum Wohle unseres Volkes und der êzîdischen Religion, die durch ihre Minderheitenposition und Heimatferne einer rapiden Bedrohung ausgesetzt sind, ist eine Reformation der êzîdischen Religion und eine Rückführung bzw. offene Haltung gegenüber Nicht-Êzîden dringlichst geboten. Die Geschichte sollte uns lehren, dass wir den Weg der Brüderlichkeit zwischen den Kurden gehen und Geschichte machen müssen. Wir dürfen nicht in der Geschichte versinken oder die Geschichte über uns ergehen lassen.

So wie einst Kurden größtenteils in der Geschichte ihrer religiösen Überzeugung und mit ihr zugleich eines Teils der ihnen innewohnenden kurdischen Identität beraubt worden sind, ist doch die Zeit gekommen, dass wir die Überzeugung hinsichtlich unserer Identität mit allen Mitteln und alles, was dazu gehört, stärken und zurückgewinnen. Dazu gehört aber auch die Offenheit der êzîdischen Gemeinschaft, die es ermöglichen würde, anderen Kurden den Eintritt zur êzîdischen Religionsgemeinschaft zu verschaffen. Schließlich haben ich und weitere selbstbewusste Kurden uns diese verzwickte Situation am aller wenigsten ausgesucht.

Ich wäre, egal wie sehr MEINE (ich nehme mir das Recht) êzîdische Religion Reformationen bedarf, gerne in meine originale Religion hineingeboren worden, und hätte liebend gerne in meinem eigenen „Schlamm“ gesteckt. Ich glaube, so denken viele kurdische Studenten und Nichtstudenten heute, die sich mit ihrer eigenen Identität beschäftigt haben.

Und auch wenn die ganze êzîdische Gemeinschaft mich nie als einen Teil von sich akzeptieren würde, ich gehöre dennoch ebenso seit meiner Geburt und der Geburt meiner Urahnen dieser Religion an, denn sie begründet meine Identität, sie ist meine Identität.

Also bitte, warum diese Strenge? Man entraubt dem Volk einen Teil der Identität, indem man ihm seine ursprüngliche Religion wegnimmt, dann die Sprache wegnimmt, nicht zu reden davon, dass unser Land geteilt, verteilt, besetzt und unter strengsten Assimilierungsprozessen beherrscht wird.

Soll ich jetzt bestraft werden wegen der kurdischen Geschichte, für die ich nichts kann? Bin ich etwa schuldig an dieser Geschichte, an der ich noch nicht mal teilhaben konnte? Nein! Aber heute werden wir zur Rechenschaft gezogen, von Kurden, die morgen leben werden.

Vielleicht wäre es in diesem Sinne gerecht, die Geschichte umzukurbeln, um an ihr teilhaben zu können, bevor es noch zu spät ist bzw. bevor noch mehr gestörte Gesellschaftsbilder in der êzîdischen Religion entstehen und Jugendliche in massivster Weise psychisch diesem ganzen nicht mehr standhalten können.

Mag sein, dass meine obigen Ausführungen zugespitzt sind, aber meiner Meinung nach sind sie ernst und ohne Übertreibung.

Schaut euch unsere Gesellschaft an, die Probleme innerhalb der Jugend nehmen stark zu. Ob êzîdisch oder nicht, es hängen viele Faktoren damit zusammen, die nicht ungesehen bleiben dürfen.

Vieles, was ich in der êzîdischen Gesellschaft mitbekomme, macht mir eben Angst und ich denke, die intellektuellen Kurden vergessen dabei, dass nicht sie alleine das Volk ausmachen, sondern die Gesamtheit der Kurden das kurdische Volk ausmacht. Diese braucht sehr viel Achtsamkeit, Liebe, Zuneigung, Geborgenheit etc., wie ein kleines Kind, sonst entstehen psychisch zerstörte Kinder und folglich ein zerstörtes Gesellschaftsbild, das nicht vorankommen wird.

Hand in Hand fließt die Gemeinsamkeit, wie im Govendtanze und nicht anders.

In diesem Sinne wäre eine Stärkung aller Punkte, die eine Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit stützt, wünschenswert, vor allem für ein bedrohtes Volk wie das der Kurden.

Mit freundlichem Gruß

 

Derya Taskiran

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Hallo Derya Taskiran,

Wir haben Ihren Brief mit großem Interesse gelesen und denken, dass sich auf dieser Grundlage eine interessante Diskussion führen ließe.

Vielleicht wird diese Debatte ja auch dadurch in Gang gebracht, wenn ich jetzt als zumindest teilweise Außenstehender, meine persönliche Meinung zu Ihrem Brief zur Diskussion stelle. Ich muss dazu allerdings vorausschicken, dass ich durch eine mehr als 30-jährige Bekanntschaft mit Herrn Alexander Sternberg-Spohr von der GfbV mit den politischen und teilweise auch den historischen Problemen vor allem Südkurdistans vertraut bin.

Nun zu den von Ihnen aufgeführten Punkten im Einzelnen:

a.) Das Parlament in der irakischen Region Kurdistan ist sicher ein Fortschritt. Bis dieses Parlament aber die Machtposition haben wird, wie wir das vom westeuropäischen Parlamentarismus kennen, wird noch etwas Zeit vergehen. Aber wenn die in der kurdischen Allianz verbundenen Parteien innerhalb der Region ein größeres Eigengewicht erhalten werden, könnte solch ein Prozess ziemlich schnell voran schreiten. Zur Zeit lese ich aber immer wieder, dass kritische Geister ohne korrektes Verfahren inhaftiert werden. Das verträgt sich nun einmal schlecht mit Demokratie. Da ist das Parlament gefragt als Kontrollinstitution, die der Regionalregierung wieder und wieder unbequeme Fragen stellt.

b.) Einheit kann etwas Schönes sein. Ich habe aber in meinem politischen Leben in Deutschland auch die Erfahrung gemacht, dass immer wieder der Wunsch nach Einheit instrumentalisiert wurde, um politische Kritik im Keime zu ersticken. Eine „Einheit in der Vielfalt“ könnte da eine sinnvolle Alternative sein. Das betrifft meiner Meinung nach neben der Politik auch das Feld der Kultur und Religion.

c.) Der Entwurf zu einer Verfassung der Republik Irak hat in § 2 eine Klausel, die jedes Gesetz ungültig macht, dass nicht den „grundlegenden Prinzipien des Islam entspricht“. Wie fatal ein solcher „Gummiparagraph“ sich auswirken kann, wird uns in diesen Tagen gerade vorgeführt, wo ein zum Christentum konvertierter Moslem in Afghanistan vor Gericht gestellt wurde, das dafür laut Schari’a die Todesstrafe verhängen kann. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die nicht-muslimischen Gemeinschaften im Irak und somit auch in der Region Kurdistan, sich um die Anerkennung ihrer Eigenständigkeit bemühen. Der höchste Repräsentant der êzîdischen Gemeinschaft, Mir Sayid Tahsin Beg, hat sich in den vergangenen 12 Monaten mit all der Kraft seiner Persönlichkeit und seiner langen Erfahrung dafür eingesetzt, dass nicht nur die Êzîden, sondern alle Angehörigen der Minoritätsreligionen Iraks als gleichberechtigte Bürger des Staates anerkannt und in ihren Menschenrechten geschützt werden. Die Hoffnung liegt nun auf dem im Januar gewählten Parlament der Republik, diesen Spagat zu schaffen zwischen dem Machtinteresse der Muslime und der Glaubensfreiheit der Nicht-Muslime, gerade auch derer, die nicht dem islamischen Verständnis von Buch-Religion entsprechen.

d.) Was nun die Exklusivität der êzîdischen Gemeinschaft angeht, da ist sicher großer Diskussionsbedarf. Jedoch ist es gerade in dieser Frage nicht ratsam, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Viele Mitglieder sind auch heute, und auch in der Diaspora in Deutschland, der Meinung, dass diese Exklusivität und die damit untrennbar verbundene Endogamie das Überleben der Gemeinschaft gewährleistet hat. Es wird schwierig sein, das Gegenteil historisch zu beweisen. Ich sehe allerdings für die Gegenwart, in Deutschland wie in allen Gebieten Kurdistans, nirgends mehr eine Sicherheit vor Verfolgung durch den Fortbestand dieser Exklusivität und noch weniger durch das orthodoxe Beharren auf der Endogamie. Denn auch das abgelegenste Tal befindet sich in Reichweite moderner Verkehrsmittel und des Internet. Aber das ist die Position eines Außenstehenden und höchstens geeignet, eine Analyse der theologischen Gründe zu initiieren. Für eine tabulose theologische Besinnung ist es meines Erachtens allerdings höchste Zeit!

e.) „Reformation der êzîdischen Religion und eine Rückführung bzw. offene Haltung gegenüber Nicht-Êzîden“: Das wäre vermutlich ein recht kleines Problem, wenn Saddam Hussein dafür verantwortlich gewesen wäre. Dessen „Arabisierungs“-Bemühungen können vom neuen Parlament per Gesetz aufgehoben werden. Da aber die mehr oder weniger zwangsweise Islamisierung der Kurden historisch betrachtet in einer recht großen Anzahl von „Bekehrungswellen“ stattfand, sich über knapp 1400 Jahre bis in die unmittelbare Gegenwart hinzog, ist das nicht so einfach durch den Federstrich eines Gesetzgebers rückgängig zu machen. Auch nicht mit einem Machtwort durch den Mir der Êzîden.

f.) Ich befasse mich seit 1965 mit Religionsgeschichte und vergleichender Religionswissenschaft. Dabei stieß ich immer wieder auf Fakten, die aufzeigten, dass so ziemlich jede Missionierung einen besonderen Menschenschlag gebar: die Eiferer für den „neuen“ und gleichzeitig kompromisslosen Bekämpfer des „alten“ Glaubens. Was durch jede Art von Korruption innerhalb der „neuen“ Kultur und Gesellschaft noch gefördert wird. Egal ob das nun die Glasperlengeschenke christlicher Missionare in Afrika waren oder das Versprechen von Machtteilhabe durch islamische Invasoren in Kurdistan.

g.) Seit ich mich, weil ich in guter Hausgemeinschaft mit einer êzîdischen Familie lebe, mit der êzîdischen Religion befasse, hat sich auch manchmal der Gedanke bei mir eingeschlichen, dass es doch ganz angenehm gewesen wäre, als Êzîde geboren worden zu sein. Darum kann ich Ihr Anliegen wohl gut verstehen und bin gerne bereit, mit Ihnen und meinen êzîdischen Freunden nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Eine Möglichkeit fällt mir da spontan ein: Wenn die Kurden, die – wie offenbar Sie – die Trennung von der êzîdischen Gemeinschaft bedauern und einen Weg zurück finden möchten, sich locker organisieren würden, sich über ihre religiös-kulturellen Wurzeln und Ambitionen verständigen und nach einem tragbaren Kompromiss mit der êzîdischen Gemeinschaft suchen könnten, dann mag sich im Laufe einiger Jahrzehnte wohl etwas bewegen. Was hindert Sie zum Beispiel daran, nach den Grundsätzen des Êzîdentums Ihr Leben zu gestalten? Wenn es dabei in erster Linie ums Heiraten geht, dann mag das Eis wohl noch zu dünn sein. Eine „Rückführung“ zur êzîdischen Religion muss tiefer gehen um haltbar zu sein, kann auf keinen Fall pauschal vollzogen werden.

h.) Abschließend möchte ich dringend davor warnen, eine Reform der êzîdischen Gemeinschaft aus kurdisch-nationalistischen Gründen voranzutreiben. Der Austausch der einen Staatsreligion gegen eine andere mag in der Feudalzeit als gängige Praxis gegolten haben, in eine Zeit, wo es um das Zusammenleben der Menschen als globale Aufgabe geht, ist dafür kein Platz mehr. Wenn sich die êzîdische Religion heute reformieren muss, dann im Sinne einer Ent-Feudalisierung. Es gibt aus meiner Sicht in der êzîdischen Mythologie eine Reihe guter Ansatzpunkte für eine zeitgemäße Interpretation, mit deren Hilfe die Gemeinschaft der Êzîden dann auch auf die Möglichkeit einer Öffnung gegenüber Menschen guten Willens aber nicht-êzîdischer Geburt gelassen positiv reagieren könnte.

Mit freundlichen Grüßen,

Karl G. Mund 
Yeziden Colloquium-Redaktion

 

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