Annelore Hermes: Religiöse Verfolgung bis zur Vertreibung – Yezidi aus der Türkei suchen eine neue Heimat, in: Grieb, Holger u.a. (Hrsg.): Wer ihr Land nimmt, zerstört ihr Leben: Menschenrechtsverletzungen an Ureinwohnern, Hamburg 1991, S. 117 – 124.

Kommentar

An diesem politisch sehr wichtigen Text zeigt sich einmal wieder, wie wichtig die Entwicklung einer allgemein anerkannten und wissenschaftlich fundierten êzîdischen Theologie ist. Denn der Glaube der Êzîden ist nun einmal das wesentliche Unterscheidungsmerkmal, und wo darüber keine Klarheit besteht, wird es immer schwierig bleiben, die übrigen kulturellen wie politischen Besonderheiten einer westeuropäischen Öffentlichkeit nachvollziehbar zu vermitteln. „Mischreligionen“ sind praktisch alle in Europa verbreiteten Religionen. Insofern ist diese von der Autorin vorgenommene Klassifizierung ungenügend, auch wenn sie von Theologen übernommen worden ist. Eine am Kerngehalt des êzîdischen Glaubenssystems interessierte Theologie sollte die Parallelen zwischen der êzîdischen und nicht-êzîdischen Religionen dazu nutzen, die Ursprünge der ersteren näher zu beleuchten und nicht dazu, diese als „Abspaltung“ von anderen Religionen zu apostrophieren.

Ebenso zweideutig und damit möglicherweise missverständlich ist der folgende Satz: „Der yezidische Glaube an den Engel Melek-e Taus verstößt gegen das Hauptgebot des Islam, daß Gott neben sich keinen Gefährten haben darf“ (S. 118). Das suggeriert, dass die Êzîden abtrünnige Muslime wären, die ihren obersten Engel Gott zugesellt hätten. Im êzîdischen Glaubenssystem hat Taus-î Melek auf Erden die Rolle eines Stellvertreters. Gottes Position ist damit weder verdrängt noch gefährdet, da Taus-î Melek mit Wissen und Wollen Gottes handelt. Das Problem liegt hier eher beim Islam, der alle älteren Kulte islamisieren wollte, was im Hinblick auf die Êzîden nun einmal nicht gelang. Worauf der Engel mit Iblis gleichgesetzt und somit zum Erzfeind der muslimischen Gläubigen ernannt wurde. Und im daraus resultierenden „Glaubenskrieg“ steht dann auch die rücksichtslose Bekämpfung nicht neben der Zwangsbekehrung, sondern davor, es gibt da kein „oder“, sondern nur ein „und“.

Ich bitte, dies nicht als haarspalterische Beckmesserei abzutun. Dafür hat es zu viele Opfer gegeben. Und die Kritik richtet sich nicht in erster Linie gegen die Autorin, sondern gegen einige der von ihr verwendeten Quellen. Im übrigen Artikel findet sich nur noch ein kleiner logischer Schnitzer, der hier nur der Vollständigkeit halber Erwähnung finden soll: „(...) die Forderung nach dem obligatorischen Tragen eines Schleiers für Studentinnen“ (S. 119) ist meines Wissens nicht Teil der Universitätsverfassungen in der Türkei, würde ja auch der Staatsverfassung widersprechen, sondern wird von fundmentalistischen Gruppierungen erhoben. Nichtbefolgen derartiger Folgerungen ist zwar legal, kann jedoch (privat-)gesellschaftliche Sanktionen nach sich ziehen.

Abschließend sei nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass der hier vorliegende Text trotz seines lange zurückliegenden ersten Erscheinungsdatums nicht als obsoletes Dokument der Zeitgeschichte eingestuft werden sollte. Die Wahrung der Menschenrechte durch die Türkische Republik im Allgemeinen und der Umgang dieses Staates mit seinen zahlreichen Minderheiten im Besonderen sollten als entscheidende Indikatoren für die EU-Aufnahmefähigkeit des Landes gewertet werden. Trotz zahlreicher Reformen der Regierung Erdogans ist die Stellung der religiösen und ethnischen Minderheiten in der Türkei immer noch nicht zufrieden stellend gesichert. Die Êzîden sind da nur eines von vielen Beispielen.


Karl G. Mund

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